Schreiblust

Eigentlich

Eigentlich war alles gut. Eigentlich gab es keinen Grund sich zu beschweren.
Eigentlich war sogar alles perfekt.
Er hatte sein Studium endlich abgeschlossen. Es hatte ein bisschen länger gedauert als eigentlich geplant, aber dafür stand nun eine 1,3 auf seinem Zeugnis. Dem Zeugnis, das er heute Morgen aus dem Briefkasten gefischt hatte.
Diesem wunderschönen, handgeschnitzten Briefkasten, dem ihm sein Bruder zum Einzug in das neue Haus geschenkt hatte. Ja, er hatte es schon gut. 27 Jahre und ein eigenes Haus. Selbst geplant. Und toll eingerichtet von seiner wunderschönen Freundin.
Sein Leben war toll. Aber er hatte auch hart dafür gearbeitet. Die Nebenjobs in Architekturbüros während des Studiums hatten einiges an Zeit gekostet. Viel Zeit. Aber sein Lebenslauf war ein Musterbeispiel für einen zielgerichteten Studenten. Und er hatte immerhin seinen Traumjob ergattert. Nach nur einem Vorstellungsgespräch. Es war unglaublich. Am Montag würde er anfangen.
Ab Montag begann das wahre Leben. Keine Gelegenheitsjobs mehr. Keine Nachtschichten in irgendwelchen Bars, weil das Geld ansonsten nicht reichte. Morgens zur Arbeit und abends wieder nach Hause. In sein eigenes Haus.
Zu seiner schwangeren Freundin. Im zweiten Monat schwanger.
Es war nicht geplant. Eigentlich wollten sie noch zwei oder drei Jahre warten. Aber wenn es das Schicksal so will. Eigentlich freute er sich ja auch. Sie war seine Traumfrau. Er wusste, dass er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen wollte. Und dann mussten sie die nächsten Jahre halt noch ein bisschen weiter sparen. Eigentlich war das ja nicht schlimm. Sie hatten ja alles, was man zum Leben brauchte. Ein Dach über den Kopf und genug zu essen. Eigentlich war die ungewollte Schwangerschaft gar nicht schlecht. Dann gewöhnten sie sich wenigstens nicht an ein zu ausschweifendes Leben. Er hatte schon zu oft gehört, dass der Zeitpunkt für Kinder immer weiter nach hinten verschoben wurde. Das sollte ihnen nicht passieren. Eigentlich war der Zeitpunkt sogar perfekt.
Heute Abend würden sie feiern. Sie hatten viel zu feiern. Seinen Abschluss, seinen Arbeitsvertrag, die endgültige Fertigstellung des Hauses und ihre Schwangerschaft. Oder sollten sie mit dem Feiern der Schwangerschaft noch warten? Gab es da nicht so eine Regel, dass man es erst nach dem dritten Monat erzählt? Aber die galt doch sicherlich nur für ältere. Sie war noch so jung. Sie waren noch so jung. Eigentlich gab es keinen Grund vorsichtig zu sein. Eigentlich konnte gar nichts passieren.
Seine Eltern würden sich riesig freuen. Endlich Enkel. Sein Bruder schenkte ihnen ja keine. Eigentlich komisch. Er und seine Frau waren schon so lange verheiratet.
Ob Marie jetzt eigentlich einen Heiratsantrag von ihm erwartete? Eigentlich wäre es jetzt ja angebracht. Jetzt, wo sie schwanger war. Auch damit wollte er eigentlich noch warten. Aber sie wäre sicherlich enttäuscht, wenn er sie nicht fragen würde. Vielleicht könnten sie mit der Hochzeit ja warten, bis das Kind geboren war. Eigentlich konnten sie sich das Fest momentan nicht leisten. Ob wohl ihre Eltern einen Teil zahlen würden? Sicherlich. Sie mochten ihn. Und auch sie würden sich riesig über ein Enkelkind freuen.
Vielleicht sollte er den Antrag bei einem Familienessen machen. Das würde Marie sicherlich freuen. Sie war ein Familienmensch. Er eigentlich nicht. Er war ganz froh, seine Eltern nicht mehr so oft zu sehen. Das würde sich bestimmt ändern, wenn das Kind da war. Was es wohl war? Bekam er eine Tochter oder einen Sohn? Eigentlich hätte er ja lieber einen Sohn. Um eine Tochter würde er sich so viele Sorgen machen. Er wusste ja, wie Männer so sein konnten. Aber auch eine Tochter würde er lieben. Abgöttisch. Sie würde sicherlich genauso hübsch wie Marie werden. Mit dieser süßen Stupsnase und diesen großen Rehaugen. Die setzten sich bestimmt gegenüber seinen grauen Augen durch.
Ja, heute Abend würden sie feiern. Es gab viel zu feiern. Sehr viel. Sein Leben war eigentlich perfekt. Eigentlich gab es keinen Grund um unglücklich zu sein.

Und doch saß er hier. Nackt. Auf diesem Hotelbett. Und starrte dieses grüne Bild an. Mit dieser Holztreppe ins Nirgendwo. Wo sie wohl hinführte? Es sah friedlich dort aus. So friedlich. Und einsam.
Im Badezimmer hörte er das Wasser rauschen. Sie duschte immer, wenn sie ankam. Er sollte sie mal fragen, warum sie das tat. Dreckig war sie sicherlich nicht. Eigentlich ging es ihn aber nichts an. Das war ihre Sache. Sie wusste schon, was sie tat. Sie wusste genau, was sie tat.
Jetzt hörte das Rauschen auf und kurze Zeit später hörte er ihre Stilettos auf den Fliesen klappern.
Zeitgleich mit dem Geräusch der Badezimmertür die aufgeschoben wurde ließ er sich auf die Knie nieder und senkte den Kopf.
Mit dem ersten Auftreffen der Lederpeitsche auf seinem blanken Rücken verschwanden alle Eigentlichs aus seinem Kopf.

Er war frei.

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Diese fiktive Kurzgeschichte ist mein Beitrag zur Schreiblust Blogparade bei SomeHowSophie. Vorgegeben war nur das oben gezeigte Bild und dann stand es jedem frei sich dazu auszudenken, was auch immer man wollte.
Es ist lange her, dass ich eine Geschichte geschrieben habe und ich merke, wie sehr ich eingerostet bin. Aber ich hatte Lust dazu mitzumachen und hoffe, dass es wenigstens einigen von euch gefallen hat.

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