Sam Pivnik: Der letzte Überlebende

Diese Biografie von Sam Pivnik ist wahrlich keine Unterhaltungslektüre aber ein äußerst wichtiges Buch, das den Schrecken des Dritten Reiches an einem Einzelschicksal greifbar macht.

Letzte Überarbeitung am 27. März 2022

[Rezensionsexemplar]
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Autor: Sam Pivnik (verstorben im August 2017)
Ghostwriter: Mei Trow

erschienen: März 2017

280 Seiten

Preis: 19,95€*

Theiss Verlag

Mir lag ein unkorrigiertes Leseexemplar zur Rezension vor, minimale Abweichungen sind also möglich.

Buchrücken

Der Junge, der dem Tod entkam

Sam war dreizehn Jahre alt, fast noch ein Kind, als die Deutschen kamen. Seine Familie lebte in einem kleinen oberschlesischen Städtchen. Da Brach die Hölle über sie herein. Auschwitz, die Todesmärsche, die Bombardierung der „Car Arcona“ – vierzehn Mal hätte der Junge in diesen Jahren getötet werden können. Doch er widerstand.

Meine Meinung

Dies ist kein Unterhaltungsroman. Jeder, der dem Buch mehr als einen flüchtigem Blick schenkt, wird es sicherlich merken, aber ich betone es lieber noch einmal. Man weiß ja nie.

Es ist die Lebensgeschichte von Sam Pivnik, die er hier, unterstützt von einem Ghostwriter, erzählt. Mit dem Fokus auf die Zeit des Dritten Reiches. Ein bisschen vorher, ein bisschen hinterher, aber doch hauptsächlich mit Berichten aus dieser Zeit.

So oder so eine schlimme Zeit. Eine Zeit, die es besser so nicht gegeben hätte. Aber noch schlimmer für einen polnischen Juden, der zum Zeitpunkt des Einmarsches der Deutschen dreizehn Jahre alt ist. Auf den Tag genau.

Im Sommer 1942 wurde immer mehr von dem Lager in Oswiecim geredet, das die Deutschen Auschwitz nannten. Es lag nicht weit von uns entfernt, und jeder kannte irgendjemanden, der irgendjemanden kannte. Es gab Gerüchte über ein kleines weißes Haus, in das die Juden geschickt wurden, um sie zu töten. Aber das musste doch Unsinn sein. Wir lebten in den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts, solche Dinge waren in den düsteren Zeiten passiert, bei Verrückten wie Dschingis Khan und Timur I Leng. Menschen, die solche Gerüchte verbreiteten, mussten ganz einfach Spinner sein.

Seite 67

Er erzählt von der Deportierung nach Auschwitz, von den tagtäglichen Grausamkeiten in diesem Lager und von den kleinen menschlichen Regungen, die ihm nicht haben vergessen lassen, dass sie alle nur Menschen sind. Keine Tiere, keine Monster, nur Menschen.

Und gerade diese Begebenheiten machen die Lektüre so schwierig. Richtig schwierig. Nicht, weil das Buch schlecht geschrieben wäre oder intellektuell überfordernd, sondern, weil einem das Herz weh tut beim Lesen und man zwar versteht was passiert und die Fakten vorher schon kennt, aber die gesamte Zeit nicht begreifen kann und will, dass es tatsächlich passiert ist.

Denn natürlich kenne ich die Daten und Fakten. Ich weiß, was passiert ist und wann. Aber das Ausmaß war bisher immer zu groß, zu schrecklich, als, dass es mich tatsächlich getroffen hätte. Es gab keinen Bezug zu meinem persönlichen Leben. Mein Verstand hat registriert, was passiert war und wie schlimm es war, aber mein Herz war zu überfordert von dem Ausmaß, so, dass es gar nicht erst angefangen hat zu fühlen.

In diesem Buch geht es jetzt (nur) um ein Schicksal. Um das Schicksal eines einzelnen Menschen. Der Mittendrin steckt, der seine Sicht der Dinge, seine Erlebnisse schildert.

Wieder ging die Tür auf. Wenn ich nicht so verängstigt und demoralisiert gewesen wäre, hätte mich die kalte Effizienz beeindruckt. Entmenschlichung in weniger als zwei Stunden.

Seite 90

Und das Herz fühlt mit. Bleibt stehen vor Entsetzen. Das Gehirn liefert dazu die Fakten. Erzählt dem Herzen, dass es nur wegen einem Menschen fühlt, dass aber Millionen betroffen waren. Beide sind überfordert und gelähmt. Herz und Hirn. Vereint in Schrecken. 

Und während das Herz noch fühlt und versucht zu begreifen, lesen die Augen weiter und das Hirn denkt weiter und der Verstand fängt auf einmal an sich zu ärgern.

Über mich. Darüber, wann ich wie fühle. Denn richtig weh tat mir das Herz, am schlimmsten sozusagen, als das Schlimmste für Pivnik schon fast vorbei war. Als er auf dem Todesmarsch durch Ahrensbök kommt, dem Ort meiner Grundschule, und in Neustadt, dem Ort, an dem ich meinen Führerschein gemacht habe, landet.

In dem Moment, in dem der eigene Kopf Pivniks Erinnerungen an diese Orte verarbeitet und mit den eigenen Gedanken an diese Orte abgleicht, trifft es das Herz am schwersten. Nicht, wenn Sam Pivnik leidet, nein, wenn es einen direkten Bezug zum eigenen Leben gibt.

Menschliche Psyche und Emotionen. Immer wieder überraschend.

Wahrlich keine Unterhaltungslektüre. Kein Buch für Zwischendurch. Aber ein Buch, das möglichst viele Menschen lesen sollten. 

Die Geschichte eines einzelnen ist eindringlicher und im Gedächtnis bleibender, als jedes Geschichtsbuch oder jede Aufreihung von Daten und Fakten es je sein könnte.

Es ist schlimm, wirklich schlimm. Aber das bringt das Thema nun mal mit sich. Wer sich an die Lektüre wagt, sich dem Schrecken aussetzt, der wird belohnt. Mit einer neuen Sicht auf Daten und Fakten, mit einer Sicht, die mit Leben gefühlt ist und einen so die vielen Tode besser begreifen lässt.

Diese Biografie von Sam Pivnik ist wahrlich keine Unterhaltungslektüre aber ein äußerst wichtiges Buch, das den Schrecken des Dritten Reiches an einem Einzelschicksal greifbar macht.

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