Manchmal vermisse ich mein Ich aus der Zeit von 16 bis Anfang 20. Es war so unbedarft und unwissend. Feminismus war etwas für alte und verbitterte Frauen und ich war mir ziemlich sicher, dass es mir zwar nicht schlecht geht, ich aber auch kein besonders privilegiertes Leben führe.
Privilegiert waren andere: Reiche und besonders begabte Menschen. Mein Leben erschien mir durchschnittlich. Zwar war ich mir bewusst, dass es mir besser ging als vielen anderen (Dach über dem Kopf, nie Hunger leidend, keine tödlichen Krankheiten…), aber es ging auch verdammt vielen anderen noch besser als mir.
Ich schäme mich nicht dafür, dass ich damals so dachte. So eingeschränkt war in meiner Wahrnehmung. Ich war jung und ich kannte nichts anderes. Schämen müsste ich mich nur, wenn ich in den Jahren seitdem nichts dazugelernt hätte. Wenn ich mir meiner Privilegien jetzt nicht bewusst wäre. Sie nicht reflektieren könnte und daher die ernsthaften Probleme von weniger bevorzugten Menschen nicht anerkennen könnte.
Wovon ich rede? #metoo, #metwo und #mequeer beispielsweise.
Aber vielleicht fange ich mit einer (oberflächlichen) Beschreibung meiner Person an. Den reinen Fakten.
- weiß
- blond
- blaue Augen
- in Deutschland geboren
- beide Eltern gebürtig deutsch
- der Mittelschicht zugehörig aufgewachsen
- auf dem Land aufgewachsen
- heterosexuell
- habe Abitur
- konnte ohne Kredit studieren
- eine Kindheit und Jugend ohne direkte oder indirekte Gewalt
Das so aufzuschreiben fühlt sich irgendwie falsch an; wie Angeberei. Dabei ist es tatsächlich nur eine Auflistung von Tatsachen, mit denen man mich und mein Leben beschreiben könnte. Und jeder dieser Punkte sorgte dafür, dass ich ein verdammt privilegiertes Leben führe.
Ich musste mir auf der Straße nie Gedanken machen, ob ich zu „fremd“ aussehe. Ich musste mir nie überlegen, wie ich meiner Familie oder Freunden „beibringe“, dass mein neuer Freund eigentlich eine Freundin ist.
Einzig das Dasein als Frau bietet einen Angriffspunkt für Diskriminierung. Jedoch deutlich geringer als bei vielen anderen, denn meine anderen Privilegien schützen mich. Sie bewahren mich davor allzu tief fallen zu können. Sie heben mich in den Augen derer, die diskriminieren, immer noch etwas über andere. Ich bin nicht völlig „falsch“, sondern immer noch etwas „richtiger“. Passe ins Weltbild von rassistischen und sexistischen Menschen. Zumindest was die äußerlichen und schnell erkennbaren Merkmale angeht.
Anders ist es, wenn sie mich reden hören. Wenn ich meine Meinung äußere. Dann passe ich nicht mehr. Aber auch dann kann ich meine Meinung unter einem weitaus geringeren Risiko äußern als es viele andere können.
Es ist allein meine Meinung, die dann Angriffsfläche bietet. Weder äußerlich noch vom Lebenswandel her biete ich Rassisten und anderem Gesocks irgendeine Angriffsfläche. Ich meine, ich bin verheiratet und bekomme jetzt ein Kind mit einem deutschen und noch dazu blonden Mann. Wir könnten als Werbeplakat für die „perfekten Deutschen“ fungieren, wenn so etwas auch nur Ansatzweise unser Weltanschauung entsprechen würde…
Ich habe das Privileg mir selbst aussuchen zu können, welchen Kampf ich führe und welchen nicht.
Wenn ich mich dazu entschließe, dass mir Nazis egal sind, dann äußere ich einfach nicht mehr meine Meinung und niemand greift mich an. Wenn ich der Meinung bin, dass mir die Rechte von queeren Menschen komplett egal sind, dann halte ich einfach meinen Mund und niemand greift mich an.
Und genau das ist es, was vielen Menschen nicht möglich ist. Sie müssen diese Kämpfe führen. Weil sie von Außen an sie heran getragen werden. Weil sie angegriffen werden. Weil es immer noch Idioten auf dieser Welt gibt, deren Weltbild so beschränkt ist, dass sie nichts akzeptieren, was nicht ihren Vorstellungen entspricht.
Wir Menschen, die sich ihre Kämpfe aussuchen können – die Pause machen können, wenn die Kräfte nachlassen – wir müssen uns dieses Privilegs bewusst sein. So einfach wie wir haben es nicht alle. Wir sehen das Problem immer nur von außen, wie sind nicht direkt betroffen. Und das macht einen gewaltigen Unterschied.
Das heißt nicht, dass wir nicht auch kämpfen dürfen. Sich für das Gute einzusetzen ist immer gut, aber wir sollten dabei achtsam sein. Wenn jemand direkt betroffenes uns sagt, dass wir es vielleicht gut meinen, aber falsch umsetzen, dann sollten wir auf die Person hören. Zumindest sie und ihr Anliegen ernst nehmen.
Wir können alle nur unser Bestes geben. Mehr geht einfach nicht.
Für privilegierte Menschen wie mich beginnt das Beste geben damit zuzuhören. Mir anzuhören, wie andere Menschen leben. Welche Probleme ihr Alltag mit sich bringt. Probleme, von denen ich vor einigen Jahren noch nicht mal etwas geahnt habe.
Und dann habe ich die Wahl zu handeln oder nicht. Meine Meinung öffentlich zu äußern oder nicht. Meistens tue ich es. So wie jetzt, mit diesem Beitrag.
Deswegen mein Appell an euch alle da draußen: Macht euch bewusst, welche Privilegien ihr besitzt. Welche Vorteile euer Leben mit sich bringt, die andere vielleicht nicht genießen können. Und dann hört denen zu, die über ihre Probleme berichten. Tauscht euch mit ihnen aus. Fragt nach, wie ihr helfen könnt. Wie sie den Rücken gestärkt bekommen wollen.
Denn das hat jeder diskriminierte Mensch verdient: Jemand, der ihm den Rücken stärkt und ihm hilft die alltäglichen Angriffe abzuwehren.
So ein wichtiger Artikel! Ich arbeite auch immer daran, mir meine Privilegien klar zu machen, auch wenn das nicht immer einfach ist. Es ist eben ein Lernprozess. Aber die Bewusstmachung ist der erste Schritt!
Ich habe mal einen Artikel gelesen, in dem Privilegien so erklärt wurden. Die Gesellschaft ist wie ein Klassenraum. In der ersten Reihe sitzen wir, diejenigen mit den meisten Privilegien. Als Frauen vielleicht ein bisschen mehr am Rand, aber immernoch ganz vorne. Je weiter man nach hinten geht, desto weniger Privilegien haben die Menschen. Und die Aufgabe ist, ein zerknülltes Papier vorne in einen Eimer zu werfen. Natürlich haben es die Menschen in den hinteren Reihen nicht nur schwerer, oft sind wir ihnen auch im Weg. Manchmal blockieren wir extra, aber oft sind wir einfach nur durch unsere Existenz ein Hindernis. Wir haben es immer einfacher. Und wenn wir uns nicht umdrehen, verpassen wir eine ganze Lebensrealität, von der wir keine Ahnung haben. Ich fand dieses Bild sehr passend.
Viele Grüße,
Eva
Moin Eva,
das Bild ist wirklich sehr passend. Beschreibt es nahezu perfekt. Vor allem, da man vorne nie bemerkt, wie schwer es die anderen haben und wer da alles noch hinter einem sitzt, wenn man sich nicht umdreht. Man nimmt nur die neben sich wahr, nicht die hinter einem.
Das werde ich sicherlich noch in dem einen oder anderen Gespräch gebrauchen können. Oft ist es nämlich nicht einfach anderen begreiflich zu machen, wie privilegiert sie sind, wenn sie sich vorher noch nie Gedanken gemacht haben. Das kann dabei echt helfen. Danke.
LG Lexa
Ein wundervoller Artikel! Den muss ich gleich zum #litnetzwerk in die Twitter-TL werfen! Gerade zum Einstieg in die Frage, wie man eigene Privilegien reflektieren kann, ist er wirklich toll.
Danke 🙂
Gerade bei solchen Artikeln freut es immer sehr, wenn sie gut ankommen und sogar geteilt werden. Das Thema ist ja insgesamt nicht ganz einfach und da ist es schön, wenn die Botschaft die gemeint ist auch ankommt.
LG Lexa
Liebe Lexa,
ein toller und wichtiger Artikel, mehr kann ich dazu kaum sagen! Mir ging es früher ähnlich wie dir; ich wusste einfach nicht, warum ich privilegiert sein sollte, wo es doch so vielen Menschen besser ging als mir. Dass es aber noch wesentlich mehr Menschen gibt, denen es schlechter geht, die täglich kämpfen und sich rechtfertigen müssen, die zB nur wegen ihrem Äußeren angefeindet werden – das zu erkennen und dann nochmal über eigene Privilegien zu reflektieren, brauchte Zeit. Trotzdem bin ich froh, diesen Weg gegangen zu sein und nicht mehr unwissend und vor allem unreflektiert zu behaupten, ich sei nicht privilegiert, weil andere vielleicht mehr Geld o.ä. haben. Privilegien zu haben, setzt schließlich nicht erst beim materiellen Vermögen an…
Liebe Grüße
Sarah
Moin Sarah,
danke.
Du hast recht, Privilegien beginnen so viel früher als beim materiellen Vermögen. Aber das zu erkennen ist oft gar nicht so einfach. Umso schöner, wenn Menschen wie du und ich es schaffen und im besten Fall der eine oder andere nach dem Lesen dieses Beitrags anfängt für sich selbst zu überlegen. Das ist zumindest das Ziel.
Und nach den Kommentaren hier und der Aufmerksamkeit bei Twitter bin ich guter Dinge, dass ich tatsächlich irgendwann erreicht haben könnte, der ein wenig ins Nachdenken gekommen ist.
LG Lexa